Von Dingen und Orten - Zur fotografischen Welterkundung von Martin Bilinovac
Anlässlich der Ausstellung "Kausal" in der Startgalerie Musa Wien 2008

„Why Pictures Now?“ hieß vor kurzem eine großangelegte Museumsausstellung mit Schwerpunkt auf der Fotografie. Was ist fotografisch heute noch zu tun? Sich dieser Frage ernsthaft zu stellen, bedeutet ein gutes Stück Arbeit. Martin Bilinovac ist es ernst damit; sein Medium ist das fotografische Bild. Die Qualitäten von Bilinovac Arbeiten entscheiden sich im subtilen Zusammenspiel von Bildkonzept, Bildgegenstand und medialer Selbstbefragung, in einer eigentümlichen Gewichtsverteilung von Welthaltigkeit und bildnerischer Intelligenz. Eigenschaften wie die nahezu geometrische Präzision und Strenge der Grundanlage, Symmetrie, Bildparallelität der Flächen, Frontalität der Gegenstände, erzeugen ein Gesamtbild, das klare Verhältnisse suggeriert, doch zugleich eine Ebene der Verunsicherung durchschimmern lässt. Was ist an diesen Bildern? Woran sind wir bei diesen Bildern? Der genaue Blick ist gefordert, um die präzise gesetzten Verschiebungen festmachen zu können, die uns aus einem sorglosen Einvernehmen mit dem Bild herausrücken lassen.

Bilinovac Arbeiten präsentieren Alltägliches in Konstellationen, die eine Anmutung des Exemplarischen haben, ohne sich simpel auflösen zu lassen. Objekte der täglichen Routine, hinter ihrem Gebrauch unsichtbar geworden, oder unspektakuläre Orte werden Stoff für dezente Aneignungen, einer „heilsamen Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch“, die sie als Träger oder Akteure von Gedankenprozessen aufs Neue nutzbar machen. Das zielt mitunter geradewegs in philosophische Regionen, wo es um die ganz großen, weil ganz einfachen Fragen geht: Was ist das alles, was uns umgibt? Allegorisches liegt in der Luft, ohne konkret fassbar zu werden. Die Titel der Arbeiten liefern da und dort Hinweise auf philosophische oder literarische Hintergründe, theoretische Bezüge, welche vom konzeptuellen Anspruch des Künstlers zeugen, über die bloße Demonstration von Diskursfestigkeit aber weit hinausgehen. So schickt etwa die Arbeit Punctum KennerInnen von Roland Barthes auf eine gezielte Suche, ohne bei diesbezüglich argloserer Betrachtung wesentlich an Wirkung einzubüßen. Allerdings ist das von Barthes als „Punctum“ bezeichnete Unberechenbare, quasi Unbewusste der Fotografie, das den nüchternen, kritischen Blick mit einer subjektiv-eigengesetzlichen Erregbarkeit unterwandert, ein wichtiger Faktor in Bilinovac Praxis, in den Bildern selbst, aber auch auf dem Weg zum Bild. Der Künstler lässt sich gern von den Resultaten seiner Arbeit überraschen, so kontrolliert die Fotografien auch aussehen mögen. Gerade die Diskrepanz zwischen Anfangsidee und Endergebnis kann Material und Thema des künstlerischen Prozesses werden.

Die Theorie ist für Martin Bilinovac ein lebendiges Substrat für ein visuelles Nachdenken, das von persönlichen Erfahrungen seinen Ausgang nimmt. Gedanken, eigene und angeeignete, werden ebenso zum Stoff wie Begegnungen mit der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt. Der Künstler ist auf einer Suche, die von dezidierten Interessen geleitet ist, den Fokus aber nicht verengt, sondern die Wahrnehmung sensibilisiert. Konzentration ist für Bilinovac ein Schlüsselbegriff; Denkflüsse und Eindrücke, auch persönliche und nicht vermittelbare, gerinnen zu einer komplexen Stille, die unserem Denken Raum zur Bewegung gibt. Ein Thema, das den Künstler immer wieder beschäftigt, ist eine Grunddimension dessen, was Bild an sich bedeuten kann: das Verhältnis von Innen und Außen. Eine Serie von Arbeiten trägt ebendiesen Titel: Innen und Außen. Motive von Durchbrüchen, Öffnungen, tatsächliche oder imaginäre, Spiegel, Türen, rahmenartige Situationen und besonders Fenster sind bei Bilinovac generell häufig anzutreffen. Das Fenster, seit Alberti Metapher und Paradigma des Bildlichen schlechthin, als Öffnung in einen vermeintlichen Raum hinter der Bildfläche, wird bei Bilinovac zu einem vielschichtigen Element, das sich dem Öffnen geradezu verschließt, den Blick zurückwirft, statt ihm Raum und Richtung zu verschaffen. Wo das Auge Tiefe sucht, stößt es auf Barrieren oder verliert sich im Nichts; die Fotografie sträubt sich gegen ihr zentralperspektivisches Erbe.

Fotografie ist nichtsdestoweniger das bewusst gewählte Medium dieser ins Bild gesetzten Bilderskepsis. Trotz der gestalterischen Vielfalt, mit welcher immer schon Eindruck und Stimmung gemacht werden konnte, und trotz der heutigen digitalen Verfasstheit der Fotografie, die den immer schon fraglichen Verweischarakter auf eine dahinter liegende Realität endgültig erschüttert, ist unser Rezeptionsverhalten immer noch erstaunlich unbefangen. Wir sind gewarnt, natürlich, und doch ist da diese Flüchtigkeit und Selbstzufriedenheit des Betrachterblicks, dieser notorische Vertrauensvorschuss in das vermeintlich Konkrete, Authentische des Gezeigten. Diese mediale Bequemlichkeit wird bei Bilinovac zum künstlerischen Material. Wir glauben, wir wollen glauben, was wir sehen, oder: wir sehen, was wir zu sehen glauben. Auch bei Bilinovac wird nicht einfach abgelichtet, was sich bietet, bei Bedarf bedient auch er sich digitaler Eingriffe. Doch immer geht es um Fotografie, geht es darum, dass die Bilder in ihrem So-Sein nur durch Fotografie zustande kommen können, wie im Fall der Arbeit Kausal (2004), deren räumlich-visuelle Komplexität angesichts ihres asketischen Aussehens regelrecht entdeckt werden muss. Konstituierende Elemente des Mediums Fotografie werden von Bilinovac verschiedentlich ins Visier genommen, im Spannungsfeld von Fläche und Raum, Schwarzweiß und Farbe, Schärfe und Distanz. Gewohntes gerät unter Druck, so in der Arbeit "Wovon ich ausgeschlossen bin" (2007), die uns unmerklich aus der Bahn wirft, bis uns der Grund dafür klar wird, nämlich die durchdringende Schärfe von Vorder- und Hintergrund und ihre auseinandertretende Beleuchtung, die dem grauen Tuch seine fast auratische Präsenz vor dem verregneten Fensterausblick verleiht.

Auch in angrenzenden künstlerischen Aktivitäten kommen die geschilderten Fragestellungen zum Tragen. Bilinovac fortlaufendes Fotoprojekt zu Büro- und Repräsentationsräumlichkeiten der Ministerialbürokratie tendiert dabei stärker ins Dokumentarische; hier lässt sich das Gesehene konkret verorten, was schon die Titel gewährleisten. Das Wissen um den „Inhalt“ dieser Räume, wo Befugte Entscheidungen fällen, die sich in der Außenwelt materiell niederschlagen und Lebensverhältnisse verändern, kollidiert mit der „Form“ dieser Wirkungsstätten im weiten Feld zwischen der Betulichkeit furnierter Büromöbel und dem Prunk historischer Salons. Der Charakter der Räume oszilliert zwischen Anonymität und Uniformität einerseits und individueller Aneignung seitens der Benutzer andererseits. Auch der Künstler macht sich die Räume zu eigen, konfrontiert sich mit dem Vorgefundenen, muss sich dazu verhalten, sehend, deutend, manchmal behutsam eingreifend, mit ungewissem Ausgang.

Der Umgang mit einer vorgefundenen Konstellation ist auch Ansatzpunkt der Arbeit Cubicles (2007), der Umgang mit zur Verfügung gestellten Ausstellungsräumen und mit einem vorgegebenen Plan, wie daraus eine Wohnung zu gestalten wäre. Die virtuelle Umwidmung in Privatsphäre kippt bei Bilinovac allerdings in eine geisterhaft-aseptische Projektion des Grundrisses auf den Realraum der Galerie. Eine Verfremdung ins Befremdliche wird auch am Berliner Palast der Republik vollzogen (2005). Das Gebäude wird zum Fassadenspuk und kommentiert solcherart die ausufernde Debatte um seinen Abriss und den geplanten Nachfolgebau, der als äußerliche Wiederkehr des Vor-Vorgängerbaus seinerseits eine gespenstische Dimension hat. Vom „Palast“ zwischen den „Schlössern“ werden dann vielleicht nur mehr die Mokkatassen im Umlauf sein, als Restpartikel eines liquidierten Vorzeigebaus.

„Dinge, die wir nicht verstehen“, hieß eine Ausstellung vor einigen Jahren. Wie man Dinge anschauen kann, ohne schon alles verstanden zu haben, oder: wie man Dinge zum Sprechen bringt, ohne genau verstehen zu müssen, was sie sagen, oder: wie man sich mit Bildern wundert, das zeigen die Arbeiten von Martin Bilinovac.

1 Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien, 2006.
2 Walter Benjamin, Eine kleine Geschichte der Fotografie, 1931.
3 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt 1994, S. 36.
4 Hinweis auf Sasse
5 Leon Battista Alberti, Della pittura, 1436.
6 Generali Foundation, Wien, 2000.